Meret Arnold
Max Leiß – Formlabor
2019


«Formlabor» – der Titel der Serie leuchtet wie ein Schild am Eingang zur Dunkelkammer. Die fotografischen Arbeiten, die bisher daraus hervorgegangen sind, haben den Charakter von Experimenten. Die Ausgangslage bilden Kreise, Kreissegmente, Rechtecke und komplexere Formen. Die Bilder variieren diese Elemente in unterschiedlichen Anordnungen und Grössen. Es sind Kompositionen aus Licht und Schatten, in denen die üblichen Orientierungspunkte wie Material, Volumen und Technik fehlen. Alle Versuche, den «Gegenstand zu sichern» führen denn auch zu Widersprüchen und Rätseln. Der Hintergrund wird Vordergrund, die solide Fläche löst sich auf und wird Raum, Durchblicke verfestigen sich zu kreis- oder rechteckförmigen Scheiben. Zum Teil erscheinen die Ränder der Formen wie angesengt oder geätzt, dann wieder schummrig oder so, als würde ein feiner Film sie überziehen. Weich oder spröd, die Qualitäten lassen sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Wären es Zeichnungen oder Gemälde, man würde nicht unbedingt versuchen, ihre Entstehung genau zu rekonstruieren. Anders bei einer Fotografie. Da möchte man die Objekte oder Orte identifizieren, die ihren Abdruck auf dem Papier hinterlassen haben.

Was hat Max Leiß fotografiert? Die Entstehung der Bilder lässt sich nicht einfach zurückverfolgen. Ihnen geht ein vielschichtiger Prozess der Transformation und Komposition voraus. Bilder werden fragmentiert, vergrössert, neu zusammengesetzt. Es ist «mixed media» im wahrsten Sinne. Eine Mischung aus Assemblage, Collage, Fotogramm, analoger Fotografie und digitaler Bildbearbeitung. Konkret begann Leiß damit, übereinandergelegte Zeichenschablonen direkt auf lichtempfindlichem Papier zu belichten. Die Fotogramme scannte er und wählte Ausschnitte, die er vergrösserte und digital bearbeitete. Von diesen Bildern erstellte er verschiedene Laserdrucke, aus denen er neue Kompositionen schuf, die er dann mit einer Kamera auf analogen Film übertrug und in der Dunkelkammer auf Barytpapier belichtete.
Die Serie «Formlabor» markiert eine neue Kategorie im Werk von Max Leiß. Der Umgang mit Fotografie unterscheidet sich stark von ihrer bisherigen Rolle. Seine früheren Fotografien zeigen Objekte oder Situationen aus der alltäglichen Umgebungswelt, die er aufgrund ihrer plastischen Qualitäten festhielt und nicht weiter manipulierte. Die Fotogramme benutzt er hingegen als Material. Er behandelt sie in einer Weise, die mit seiner skulpturalen Arbeitsweise verwandt ist. So gaben auch Fundstücke, in diesem Fall Zeichenschablonen, die Impulse für die Werkidee. Und so wie Leiß in seinen Skulpturen einzelne Elemente aus einem ursprünglichen Ganzen herauslöst, fragmentiert und neu kombiniert oder den Massstab verändert, so setzt er dieses «Set an bildhauerischen Handlungen» auch in «Formlabor» ein. Nur ist hier das Objekt, sobald es auf Papier gebannt ist – weg. Der Künstler verlagert den Prozess auf die Bildebene. Per Mausklick verkehrt er das Positiv in ein Negativ, zoomt bis man den Eindruck einer mikroskopischen Ansicht erhält und setzt die verschiedenen Fragmente in Collagen neu zusammen.

Max Leiß fasziniert, «dass das, was eigentlich nur funktional ist oder war, so eine unheimliche Variation von Formen hervorbringt». Die Zeichenschablonen, die «Formlabor» zugrunde liegen, dienten einst Architekten, Landschaftsarchitekten und verwandten Berufen zum Zeichnen ihrer Pläne, bevor sie durch Computersoftware obsolet wurden. Leiß nimmt dieses Formenvokabular auf und prüft es spielerisch, indem er mit verschiedenen Massstäben, Ausschnitten und Kombinationen experimentiert. Die Serie lehnt sich damit stark an die visuelle Sprache von Max Leiß’ «Ausgabe#»-Hefte an, die er seit 2011 publiziert. Diese beinhalten Collagen aus Drucken, Fotografien, Kopien und Textausschnitten, die ihm als persönlicher Zeichensatz dienen und seinen künstlerischen Ansatz offenbaren. In «Formlabor» arbeitet der Künstler mit einer Versuchsanordnung aus Zeichenschablone, Fotogramm und Bildbearbeitungssoftware, die immer gleichbleibt. Jedes Werk der Serie stellt einen Versuch dar, unter denselben Bedingungen ein neues Bild zu kreieren und damit das bildhafte und skulpturale Potenzial seiner Fundstücke auszuloten.

Max Leiß verwendet für alle seine Fotografien eine analoge Kamera und fertigt die Abzüge eigenhändig in der Dunkelkammer an. Analog und digital sind in seinem Schaffen zwei gleichwertige Verfahren. Doch haben das Smartphone und die digitale Bilderflut ihn in seinem Interesse bestärkt, einen anderen Umgang mit dem Bild zu suchen. Einen Umgang der körperlicher, handwerklicher und objekthafter ist. «Formlabor» bringt dieses Interesse deutlich zum Ausdruck: für die Herstellung seiner Fotogramme hantiert er direkt mit dem Gegenstand; seine Bildkompositionen findet er mit Cutter und Papierabzügen. Dieser skulpturale Zugang zum Bild spiegelt sich in Leiß’ inhaltlichen Bestrebungen, «Bilder in Objekte zu verwandeln und Objekte in Bilder». Viele seiner Skulpturen verfügen über stark bildhafte Qualitäten. Das hat zum einen mit der Art ihrer Präsentation zu tun. So installiert der Künstler seine Skulpturen teils reliefartig an der Wand. Zum anderen beschäftigt er sich immer wieder mit der Linie im Raum. Ortsspezifische Arbeiten wie etwa das vierzig Meter lange «Funktionszeichen» aus Schamott im Kunsthaus Baselland oder seine Gestelle aus Holz und Stahl lesen sich denn auch wie Raumzeichnungen. Sucht er bei diesen Beispielen nach dem Bildhaften in der Skulptur, so ist es in «Formlabor» genau umgekehrt. Hier experimentiert er mit der Materialität und Räumlichkeit des Bildes. Er montiert die Fotografien auf Aluminiumkästen, um ihnen einen Körper zu geben. Er legt mehrere Schablonen übereinander, damit die Formen Tiefe und Volumen erhalten. Und er betont die Materialität der Gegenstände, indem er die Fotogrammtechnik einsetzt. Diese gibt die Gegenstände zwar abstrakter wieder, doch scheint sich der Fokus gerade dadurch auf die Form und das Material zu verschieben und zum Objektcharakter der Werke beizutragen.

Die wechselseitige Beziehung zwischen Objekt und Bild macht Max Leiß auch in seinen Ausstellungen und Publikationen deutlich. In präzisen Kompositionen setzt er seine an sich eigenständigen Skulpturen und Fotografien miteinander in Beziehung. Sie bereiten sich damit gegenseitig den Boden für ihre Rezeption. Die Betrachtenden sind eingeladen, die Verbindungen zu erleben, ihnen nachzuspüren und dabei in den Schaffensprozess des Künstlers einzutauchen. In seinen früheren Fotografien entdeckt man so den «skulpturalen Blick», mit dem Leiß in Strassen und Landschaften auf Formsammlung geht. Seine Aufnahmen heben Formen oder Assemblagen aus dem Alltag, die von uns meist unbeachtet in unserer Lebensumwelt existieren. Auf diesem Hintergrund kann man seine Skulpturen als Fragmente lesen, die aus einem solchen beiläufigen Alltagskontext stammen. Seit 2018 findet auch das «Formlabor» Eingang in die Werkkonstellationen. Im tschechischen Zlín präsentierte Leiß erstmals mehrere großformatige Abzüge der Serie zusammen mit Skulpturen. In dieser Ausstellung verlor die Frage nach der Verortung der Formen an Relevanz. Man war zwar immer noch versucht, die bildhaften und skulpturalen Zeugnisse wie eine Archäologin zu ergründen, doch konnte man sich auch rein der Erfahrung dieser ein wenig rätselhaften Formen hingeben.