Barbara von Flüe, Kuratorin am Kolumba Museum Köln:
aus der Laudatio zur Verleihung des Kunstpreises junger westen, Kunsthalle Recklinghausen 2017


Eine eigenartige Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit charakterisiert die Objekte von Max Leiß. Seine Arbeiten lösen Assoziationen aus an Gesehenes oder an Benutztes, evozieren Funktionalität. In dieser Rückbindung an Gebrauchsobjekte spielen die von ihm gewählten Materialien und Formen eine wesentliche Rolle. Genauso wichtig scheint mir dafür jedoch auch die Platzierung der Objekte untereinander und im Raum zu sein – eine Aufgabe, die Max Leiß selbst übernimmt und die fester Bestandteil seiner künstlerischen Arbeit ist. In seinen Ausstellungen baut er räumliche Zusammenhänge, in denen die Zwischenräume eine Rolle spielen – sie fordern uns dazu auf, uns zu den Objekten zu verhalten. Die gegenständlichen Assoziationen werden also weniger durch das Auge als durch die Haptik (also die Hand) oder den ganzen Körper ausgelöst: In Gedanken klappen wir einzelne Objekte auseinander und wieder zusammen, um ihre Intaktheit zu testen. Oder wir überlegen uns, ob wir uns vielleicht doch irgendwie hinsetzen könnten. Die Objekte haben etwas von Relikten, ohne dass ihre Oberflächen Spuren von Gebrauch zeigen würden. Als stille Begleiter bringen sie immer auch die Zusammenhänge mit in den Ausstellungsraum, aus denen sie herausgelöst worden sind. Man könnte sagen: Es sind Speicher von kulturellen Praktiken, aus dem üblichen Kreislauf herausgefallene Dinge; herausgefallen nicht etwa, weil sie entsorgt oder defunktionalisiert worden sind, sondern weil nun gerade ihnen ein subjektbezogener Seinszustand zugestanden wird. (...)

Wenn die „Aneignung“ als künstlerische Strategie im Werk von Max Leiß eine zentrale Rolle spielt, so könnte man für die Prozesse, die im Atelier stattfinden, vielleicht von einer „Strategie des Loslassens“ sprechen. In das Material, das der Künstler sich aneignet, greift er ein – er begreift die Form als etwas Werdendes, fügt etwas hinzu, meist jedoch nimmt er etwas weg, er reduziert, abstrahiert, kopiert, verändert die Massstäblichkeit, lässt die Dinge liegen, verschiebt, inversiert, experimentiert, macht Fehler, nimmt sie wieder hervor, manchmal durchläuft eine Arbeit auch verschiedene Aggregatszustände. Mithilfe eines bildhauerischen Instrumentariums – das er auf eine subversive und unaufdringliche Weise immer wieder auch zum Thema seiner Arbeiten macht – verfolgt er diesen Prozess so lange, bis sich die Skulptur bewährt auf dem schmalen Grat zwischen Reduktion und Referenz. (...)

Wer sich mit dem bisherigen Werk von Max Leiß beschäftigt, wird feststellen, dass einzelne Formen tatsächlich immer wieder auftauchen. Sie wandern durch die Medien – vom Raum aufs Papier und wieder zurück in den Raum. Dieser Arbeitsweise liegt ein Werkverständnis zugrunde, das die Endgültigkeit der Form und damit auch die Endgültigkeit des Werks verhindert oder negiert. Stattdessen sucht Max Leiß nach den Kräften hinter den Formen, formt das, was er findet, um, gibt den Kräften eine neue Richtung. Dieses Selbstverständnis erfordert ein hohes Mass an Einfühlungsvermögen. Denn was seine Vorgängerinnen und Vorgänger an Formen hervorgebracht haben – Architekten, Ingenieure, Stadtplanerinnen, Designer, Wissenschaftlerinnen, oder was anonym und durch gelebte Praxis entstanden ist – liegt in den Skulpturen von Max Leiß aufgehoben. Was ihn interessiert, ist der transformatorische Prozess. Und trotzdem ist Max Leiß kein Konzeptkünstler, im Gegenteil: er versteht sich ausdrücklich als Bildhauer – was er realisiert, sind skulpturale Setzungen. Es gelingt ihm jedoch, diesen Setzungen Leichtigkeit und Zweifel einzubauen – sie so zu formulieren, dass ihre Vergangenheit und auch ihre Zukunft (das, was man auch noch hätte sagen können) immer mitschwingt. Damit hat er zu einem eigenen und sehr zeitgemässen Begriff von Skulptur gefunden, der weder die selbstbewusste Neuschöpfung der Moderne noch das postmoderne Sampling wiederholt, sondern der beides miteinander verbindet und zu konzeptuell präzisen und sinnlich überzeugenden Formulierungen findet.

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